Santayana, der Weise, sagte einst, wer sich nicht seiner Vergangenheit erinnert, ist verurteilt, sie zu wiederholen.
In seiner bescheidenen Klause im Hause der verwitweten Zahnarztgattin zu Berlin-Zehlendorf hat sich der Prof. Dr. Caspar David Friedrich Mannheimer dem Bild eines asketischen Künstlerdaseins unterworfen. Hierzu zählt, den Kontakt mit der Außenwelt auf ein notwendiges Minimum zu reduzieren und vor allen Dingen, was leibliche Genüsse angeht, übt er strengste Disziplin. Nur so lässt sich ein großes Werk schaffen.
Keine Ahnung, woran das liegt, vielleicht an der Hitze oder vielleicht, keine Ahnung. Jedenfalls sind es die Mohrenköpfe. Die quälen ihn, schleichen sich ein in seine Gedankenwelten und gaukeln ihm einen Geschmack vollkommen schaumiger Süße auf die Zunge, sodass er schließlich und endlich es einsieht und durch die sengende Mittaghitze zum Mexikoplatz tigert.
Dort gibt es nämlich ein Schokoladegeschäft in der S-Bahnstation, die haben zwar keine Mohrenköpfe, aber sie bieten einen vorzüglichen Mokka an. Dazu gönnt er sich ein oder zwei von diesen oberleckeren schokoladeartige Petit-Four-Angelegenheiten. Von Form und Größe kommen sie durchaus an einen Mohrenkopf ran, jedoch sind sie in Beschaffung und Dichte eher vergleichbar mit Pralinen. Und davon ißt er dann zwei, und den Rest steckt er in seine Aktentasche. Hat er aber schlechte Erfahrung gemacht damit, jetzt wo selbst im Berliner Sommer Höchsttemperaturen herrschen.
Von dem kenntnisreichen Personal lässt er sich ausserdem eine von den ausgezeichneten Schokoladetafeln empfehlen. Die nimmt er aber nicht mit, weil ehrlich gesagt, gehört er nicht zu den Leuten, die drei Tage lang an einer Tafel Schokolade essen. Bei ihm geht das ratzfatz und das verträgt sich nicht mit seinem Selbstbild als asketischer Künstler. Mit dem jungen Mann hat er sich dann dahin gehend geeinigt, dass er eine Tafel erwirbt und die wird, mit seinem Namen versehen, im Kühlschrank aufbewahrt. Da kann er dann, wenn er zufällig mal vorbeikommt, einfach ein oder zwei Stückchen davon genießen ohne den Druck zu haben. Und wenn er mehr will, kann er einfach wieder kommen.
Die Sache mit den Mohrenköpfen ist ja- reden wir nicht drum rum – eine Schwäche des Professors.
Doch wer Großes leisten will, der darf sich keine Schwäche erlauben. Und man muss dem Proff bescheinigen, dass er es manchmal fast eine Stunde aushält. Dann zieht es ihn aber wieder zurück an den Mexikoplatz, bisweilen mit dem Vorwand, dass er sowieso noch was Nachgucken will, wobei er manchmal auch rechts rum läuft, damit die Leute nicht auf dumme Gedanken kommen. Wahrscheinlich hat er vor lauter Schokolade noch gar nicht gemerkt, dass praktisch jedes Mal die Alice auf der Bank schräg gegenüber sitzt und alles mitkriegt. Da sitzt sie, die dicken Beinchen überkreuz und auf dem Schoß hat sie eine große Packung Mohrenköpfe von Dickmanns. Schaumküsse heißen die übrigens neuerdings. Sie hat
ja genau die entgegengesetzte Taktik, was das Gelüst angeht. Das sieht sie
alles viel lockerer als der Proff. Gelüst kommt ja bekanntlich von Lust und ihr Motto ist: sie ist erst dann fertig mit den Dickmännern, wenn ihr richtig schlecht ist. Also so richtig kotzübel. Dann ist die Lust befriedigt. Und nach diesem wohldurchdachten Plan macht sie sich gerade über die letzte Reihe Mohrenköpfe in der Packung her, wie der Proff gerade mal wieder in den Schokoladenladen schleicht. Da grinst sie sich eins ins Fäustchen. Aber ganz ehrlich: im Grunde ist sie schlechtigkeitsmäßig schon soweit, aber dann wieder auch nicht, weil ja noch ein paar Mohrenköpfe in der Packung sind. Und über die macht sie sich jetzt her. Sonst bliebe das Gefühl eines „unfinished business“ und sie müßte mit der ganzen Sache nochmal von vorn beginnen. Und tatsächlich: so langsam aber sicher ist der Punkt erreicht.
Aber dieses Mal ist es besonders schlimm.